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Im Gleichgewicht

Aktualisiert: 3. Feb. 2023

Es war wohl wegen Science Fiction, dass ich begonnen habe, die Weiten des Kosmos mit meiner psychischen Erkrankung in Verbindung zu bringen. Stanley Kubricks Klassiker 2001 – Odyssee im Weltraum zeigt die Unverbundenheit von zwei Astronauten und einem empfindungsfähigen Computer. Letzterer ist der menschlichste der drei, weswegen er mit der Einsamkeit auf dem Flug zum Jupiter am meisten zu kämpfen hat.


Dieselbe Einsamkeit widerspiegelt in Alfonso Cuaróns Gravity das Trauma der Hauptfigur, die auf der Erde ihre Tochter verloren hat. In ihrer Trauer nimmt sie ihre Umgebung und die Mission in erdnaher Umlaufbahn auch ohne Helm wie durch eine Glocke wahr.


Auch Christopher Nolans Interstellar und James Grays Zu den Sternen handeln von der Trennung von Eltern und Kindern – verbunden mit der Beinahe-Unmöglichkeit, ausserhalb der schützenden Erdatmosphäre jemals wieder mit anderem Leben in Kontakt zu kommen.


Das Gleichgewicht liegt in unserem Universum in der Bewegung und der Relativität. Der «Galaxy Song» aus Monty Pythons Der Sinn des Lebens fasst die Geschwindigkeiten zusammen, mit der wir uns stets bewegen:

  • Erdumdrehung mit 1670 Kilometern pro Stunde

  • Sonnenumlauf mit 31 Kilometern pro Sekunde

  • Rotation um den Mittelpunkt der Galaxie mit 12 Millionen Meilen pro Tag

  • Expansion des Universums mit der Lichtgeschwindigkeit von elf Millionen Meilen pro Minute

Diese Geschwindigkeiten und die Distanzen, die sie implizieren, sind schwer zu glauben – und für einige Menschen sogar unglaublich, weswegen sie von der vermeintlichen Einfachheit einer flachen, stationären Erde angezogen werden.



In diesem Rennen nicht gegen, sondern mit der Zeit gibt es Orte, an denen verhältnismässig Stillstand herrscht. Jede Ansammlung zweier Objekte wie die Erde und die Sonne hat fünf dieser nach ihrem ersten Berechner benannten Lagrange-Punkte. An ihnen ist es für vergleichsweise leichte Objekte möglich, zwischen den beiden schwereren beiden Körpern zu verweilen.


Das ist relevant für Weltraumstationen zwischen der Erde und dem Mond sowie Sonden und Teleskopen zwischen der Erde und der Sonne. Ausserdem können Körper an den Lagrange-Punkten mit wenig Energie von der Umlaufbahn des einen auf diejenige des anderen Körpers zu wechseln. Wir können also von der Erde eine Sonde via einen Lagrange-Punkt in einem Umlauf um die Sonne schicken. Umgekehrt kann die Erde einen Asteroiden aus dem Umlauf um die Sonne einfangen.


Ich befand mich psychisch lange auf dem ersten Lagrange-Punkt zwischen der Erde als Ort des Lebens und der Sonne als Energiequelle. Von dort geniessen Satelliten und ich rund um die Uhr einen Blick auf den beleuchtete Erdhalbkugel. Ausserdem sind wir Frühwarner und -erleider von Sonnenwinden und -eruptionen.


L1 ist ein instabiler Punkt. Ohne Kurskorrektur wandern wir Satelliten von diesem Punkt ab und nähern uns entweder mit hoher Geschwindigkeit der Erde oder verlieren uns für eine Weile in einem Umlauf um die Sonne. Selbiges passiert mit meiner Stimmung. Ich tendiere entweder zur Hypomanie, gewinne und verliere in einem Vorbeiflug an der Erde Unmengen an Energie, oder ich werde in die dunkle Weite der Depression katapultiert.


Einen Teil der International Space Station über der Erde
Bild: NASA

Als sich zu meiner bipolaren Störung noch Ängste gesellten, wurde mir diese Regelmässigkeit der Instabilität zu viel. Ich verschob mich auf den zweiten Lagrangepunkt, dem Pendant zu L1 auf der Schattenseite der Erde, wo ich seit Neuestem das James-Webb-Teleskop antreffen würde. Abgewandt von der aktiven Seite der Erde und abgenabelt vom lebensspendenden Licht der Sonne haben das JWT und ich freien Blick auf die Weiten des Universums. Die Relativität sorgt dafür, dass dieser Bereich auf uns langsamer wirkt. Plötzlich werden andere Energiequellen als die übliche sichtbar. Für das Teleskop ist es das Licht weitentfernter Sterne, für mich entsprang die Kraft vor allem aus mir selbst.


Doch L2 ist genauso instabil wie L1. Im Weltraum dauert es an beiden Punkten durchschnittlich 23 Tage, bis Körper abwandern. In meinem Leben war L2 kurzfristig stabiler als L1, aber kein langjähriger Dauerzustand, wie ihn mir L1 geboten hatte. Irgendetwas zog mich zurück auf die Sonnenseite, wo das Leben stattfand. Die nötige Energie aufzuwenden, um am L2 zu bleiben, erschien mir je länger, je mehr als vergebene Liebesmüh.


Das Hubble-Teleskop über der Erde
Weltraum-Teleskope wie Hubble und James Webb erlauben es uns, die Tiefen des Alls zu betrachten (Bild: NASA)

Ich zog also weiter zu L3. Mit Bezug auf die Erde und die Sonne befindet sich L3 auf der gegenüberliegenden Seite der Erdumlaufbahn. Sowohl der altgriechische Philosoph Philolaus als auch moderne Science Fiction platzieren auf dem L3 die Gegenerde Antichthon, die stets von der Sonne verdeckt ist. Wie L1 und 2 kann indes auch L3 nur von vergleichsweise leichten Körpern eingenommen werden. Antichthon würde aus dem Zwei- ein Dreikörpersystem machen – ein erwiesenermassen unberechenbares Chaos.


Ich befand mich etwa sechs Jahre auf L3 – Jahre, in denen ich zwar am Leben rund um mich herum teilnahm, aber mich stets diametral entgegengesetzt fühlte. Dies wurde zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung – ich fühlte mich nicht mehr alleine, weil meine Entscheidungen und Emotionen anders als die der anderen waren, sondern fällte Entscheidungen, um anders zu sein. Trotzdem blickte ich wegen meiner gebundenen Rotation stets auf die Sonne und verglich mich mit der dahinter verborgenen Erde.


Die Sonne mit Sonnenwinden und -flecken
Liegt hinter der Sonne ein Objekt, das wir nie zu sehen bekommen? (Bild: NASA)

Es stellte sich heraus, dass mein Aufenthalt am L3 mit eine Nebenwirkung eines Medikaments war. Für mich war das erschütternd, hatte ich doch dieses Gefühl während langen Jahren im Gravitationszentrum meines Innern gehegt und gepflegt. Glücklicherweise begab ich mich von L3 auf direktem Weg zu L4. Er und sein Pendant L5 bilden zusammen mit der Erde und der Sonne als Eckpunkte zwei gleichschenklige Dreiecke.


Sofern der Masseunterschied zwischen den beiden Körpern gross genug ist, sind L4 und L5 stabil und ziehen sogar Objekte an. Mehrere Planeten des Sonnensystems haben an ihren L4 und 5 sogenannte trojanische Asteroiden; zwei saturnische Monde haben ihrerseits trojanische Trabanten. Kommt ein Körper von L4 oder 5 ab, wird er nicht etwa ausgeworfen, sondern begeben sich auf einen nierenförmigen Umlauf um den Langrange-Punkt.

Illustration einer Nahaufnahme von Saturns Ringen, in denen einzelne Gesteinskörper zu sehen sind
Neben seinen Ringen hat Saturn mindestens 83 Monde, von denen zwei ebenfalls um sie kreisende Trabanten haben (Bild: Alessandro Ferrari)

Seit ich L4 erreicht habe, blieben also gröbere Änderungen aus. Zweimal begab ich mich auf einen einmonatigen Umlauf durch die Depression, nur um wieder zurück zu kleineren Rotationen zu finden. L4 und 5 sind indes nicht komplett ungefährlich. Die Giant-Impact-Hypothese besagt, dass einst ein Körper namens Theia von einem der beiden Punkten mit der Erde kollidierte, was unserem Mond formte.





Orbitalmechanisch sind L4 und L5 gleichwertig. Konventionell ist L4 der Punkt, der dem kleineren Körper auf dessen Umlauf voraus ist. L5 hinkt um dieselbe Distanz hinterher. Ich fühle mich mit einen Ansprüchen an den persönlichen Umgang, dem Schutz der Umwelt und an unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem der Zeit voraus.


Vielleicht erwartet mich irgendwann in der Zukunft der Wechsel zu L5 und das Gefühl, rückständig zu sein. Vielleicht gesellen sich mit der Zeit mehr und mehr Körper zu mir, genauso wie in Science-Fiction-Werken Kolonien gebildet werden, um teures Sonnenmaterial in den Umlauf der Erde abzulenken. Je schwerer wir werden, desto grösser wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir von unserem stabilen Punkt abkommen und uns zurück in einen Umlauf um die Erde begeben – oder wieder mit ihr eins werden.

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